. . . vom Team der Evangelischen Medienarbeit an Wolfgang Reinbold. Der Theologe lehrt Neues Testament an der Georg-August-Universität Göttingen und ist Referent für Kirche und Islam der Landeskirche Hannovers.
Herr Reinbold, heutzutage verbinden die meisten Menschen das Erntedankfest mit der Kirche. Sind die Ursprünge des Fests überhaupt christlich?
Reinbold: Nein, Erntedankfeste gibt es in fast allen Kulturen. Sie gehören zu den Ur-Festen der Menschheit. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Wenn wir nichts ernten, können wir nicht leben, ganz gleich, welcher Kultur, welcher Religion wir angehören. Die drei großen Feste der Bibel haben allesamt einen Bezug zur Ernte. Das Fest der Ungesäuerten Brote, das man später „Passa“ oder auch „Pessach“ nannte, war das Fest zur Gerstenernte. Das Wochenfest, das wir heute „Pfingsten“ oder jüdisch „Schavuot“ nennen, war das Fest zur Weizenernte. Und das Laubhüttenfest, genannt „Sukkot“, war das Fest zur Weinlese. Das Erntedankfest fällt dagegen bis heute im Kirchenjahr aus dem Rahmen. Es ist das einzige Fest im Jahreskreis, das sich auf das natürliche Jahr bezieht und das keinen Bezug zu Christus hat.
Zum Erntedank-Brauchtum gehört es insbesondere in ländlichen Gegenden, den Altarraum üppig mit Feldfrüchten und Gartenblumen zu schmücken. Wie entwickelte sich dieser Brauch – und was bedeutet er?
Reinbold: Dieser Brauch knüpft unmittelbar an die Erntefeste an, wie sie in der Antike allgemein üblich waren. Er entwickelte sich an manchen Orten schon im dritten Jahrhundert. Für das älteste Christentum war das ein durchaus riskantes Experiment. Denn grundsätzlich grenzte man sich ja von den, wie es hieß, „heidnischen“ Kulten ab und betonte die Bedeutung des Glaubens an den einen Gott und seinen gekreuzigten und auferstandenen Sohn Jesus, den Christus. Beim Erntedank aber feierte man im Wesentlichen so, wie es die anderen – also auch die „Heiden“ - taten. Deshalb gab es in der Geschichte der Christenheit nie einen klar definierten Termin für das Erntedankfest. Man feierte das Fest vielmehr zu dem Zeitpunkt, an dem es vor Ort jahreszeitlich passte. Bis heute steht es in den Gottesdienstordnungen ganz hinten im Anhang, unter der Überschrift „Besondere Tage und Anlässe“. Und erst seit einigen wenigen Jahren hat sich erstmals ein fixer Termin ergeben, nämlich der erste Sonntag im Oktober.
In Zeiten der Klimakrise und einer industrieller werdenden Landwirtschaft ändern sich die Vorzeichen des Erntedankfestes. Wirken die romantischen Acker- und Gartenstillleben vor den Altären angesichts dessen nicht wie ein Widerspruch zur Wirklichkeit?
Reinbold: Die Gefahr besteht in jedem Erntedank-Gottesdienst, in der Tat. Dann ist es wie bei manchen Lebensmittel-Etiketten: Die Produkte sind in Massentierhaltung erzeugt, auf der Packung sieht es aber aus wie bei Heidi auf der Alm. Es scheint mir daher wichtig, die Erntedankfeste so zu feiern, dass sie zur tatsächlichen Situation der Landwirtinnen und Landwirte und der Erzeugung der Lebensmittel passen. Und vor allem: Sie sind meines Erachtens eine Chance, dass wir uns den Wert unserer Lebensmittel immer wieder neu in Erinnerung rufen. Wir sind es in Deutschland gewohnt, dass auf dem Markt und in den Regalen der Supermärkte immer alles reichlich vorhanden ist. Wie wenig selbstverständlich das ist, spüren wir nur selten, etwa dann, wenn wir von Hochwasser oder Dürre betroffen sind. Das Erntedankfest ist ein Anlass, sich an die Ur-Erfahrung zu erinnern, die in der Bibel so präsent ist: Wir haben die Ernte nicht selbst in der Hand. An Gottes Segen ist alles gelegen.
Quelle: Newsletter der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers vom 4. Okt. 2023